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Reliquien
Auseinandersetzung mit dem Bentlager Schädelschrein
Beim ersten unvorbereiteten Betrachten des Schreins nehmen die Kinder der Klasse 4b «Jesus, Blumen und ganz viel Gold» wahr, dazu auch «so komische Steine und Töpfe». Nachdem die «Steine» als Knochen und die «Töpfe» als Schädel identifiziert sind, reichen die Reaktionen von «Iih!» bis «Cool, wie in diesem grausamen Nintendo-Spiel!» Der Sinn dieser geschmückten Knochen wird den Kindern verständlicher, als wir über Heilige und Reliquienverehrung sprechen.

Die große Bedeutung der Reliquien für die Klosterfrauen drückt sich in der überreichen Schmuckarbeit aus. «Die Nonnen müssen aber sehr viel Arbeit damit gehabt haben!», meinen auch die Kinder. Ein Gefühl für diesen Arbeitsaufwand entwickeln sie selbst, als sie - als ungeübte Anfänger - ein winziges Detail aus dem Schmuckreichtum nacharbeiten. Nach dieser eigenen Erfahrung können sie noch besser ermessen, welche Ausdauer und Liebe zum Gegenstand in den sichtbaren Arbeitsergebnissen steckt.

Eine gefühlsmäßige Verbundenheit mit dem Schrein ergibt sich auf diese Weise, denn nun haben wir «sowas auch schon mal gemacht», der Schrein ist uns vertraut, wir «besitzen» ihn. Die nachgearbeitete kleine Blume dient später auch als symbolisches Zeichen der verbindenden Prinzipien zwischen dem Bentlager Schrein und der Arbeit der Kinder.

Heiligtümer heute          in der Grundschule
500 Jahre Bentlager Schädelschrein - ein Anlass, sich einmal mit einer für heutige Menschen und insbesondere für Kinder nur schwer zugänglichen künstlerischen Erscheinungsform der Religion zu befassen: Knochen und Schädel von Heiligen und Märtyrern, die sich durch Wundertaten und durch ihren bedingungslosen Glauben auszeichneten, sind prachtvoll geschmückt als Reliquien zur Anbetung und Andacht präsentiert.

Hier ist etwas Heiliges und Verehrungswürdiges ausgestellt. Dieses Verehrungswürdige erscheint uns heute nicht nur befremdlich, sondern sogar abstoßend, grausig und «geschmacklos». Horrorfilmbegeisterten Kindern und Jugendlichen könnte es dagegen schon fast wieder einen angenehmen Schauder bereiten. In jedem Fall: Menschliche Knochen schmücken und ausstellen - wer käme heute auf solch eine Idee? Und dann dieser Schmuck, diese Verzierung - sind sie nicht kitschig und überladen? Was also soll dieses schwer verständliche spätmittelalterliche Stück, das so gar keinen Bezug zu unserem Leben zu haben scheint, Kinder heute noch angehen?

Knochen und Blumen
Mit meinem Unterricht möchte ich eine Verbindung zum Empfinden der Kinder herstellen, so dass sie sich selbst in dem Anliegen des Schreins wiederfinden, das Befremden in ein angebahntes Verständnis überführen und somit die grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber «schwierigen» Kunstgegenständen durch diese Zugangserfahrung fördern. Denn wenn man das Anliegen des Schädelschreins betrachtet, kann man sich fragen: Gibt es heute Vergleichbares? Machen wir vielleicht selbst Vergleichbares? Worin bestehen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, wenn wir heute liebe und wertvolle Gegenstände, unsere «Heiligtümer» und «Reliquien», in Szene setzen und zur Schau stellen? Wie weit ist eigentlich der Weg von mittelalterlichem zu heutigem Empfinden?

Die grundlegenden Motive des Heiligen- und Reliquienkults sind uns gar nicht so fremd: Die Verehrung von Idolen und Vorbildern huldigt dem Wunschbild vom besseren, vollkommenen Menschen, dem man nacheifern und mit dem man sich identifizieren möchte. Wenn man sogar ein Erinnerungsstück, quasi «ein Teil von» diesem Menschen besitzt, fühlt man sich ihm noch enger verbunden. Einfache, profane Dinge können als Andenken oder Symbol für das, was uns «etwas bedeutet», einen ideellen Wert erhalten. Mit Freude an der Überhöhung wird die Wertschätzung deutlich und sinnlich wahrnehmbar gemacht durch das Schmücken und Präsentieren. Hier drückt sich die Sehnsucht aus nach einer besseren Welt, einer Wunsch- und Traumwelt, dem Paradies.

Diese Bedürfnisse verbinden den mittelalterlichen Schrein mit den Devotionalien von heute, die Gegenstand des ästhetischen Gestaltens für die Kinder werden sollen. Waren es früher Heilige, die verehrt wurden, könnten es heute Pop- oder Fußballstars sein, von denen man statt körperlicher Überreste nun eben Autogrammkarten oder Fotos aus Zeitschriften sammelt. Erinnerungsstücke an nahestehende Menschen oder an geliebte Haustiere können ebenfalls quasi Reliquienstatus erhalten. Erweitert man - wie im allgemeinen Sprachgebrauch - die Definition von «Reliquie» zu «persönlich bedeutsames Erinnerungsstück», erweitern sich ebenfalls die Möglichkeiten der individuellen Umsetzung: Auch Dokumentationen eigener Erfolge - Pokale, Urkunden - und Andenken an besonders schöne Erlebnisse - Urlaubserinnerungen, Liebesbriefe - können es wert sein, wie Reliquien inszeniert und präsentiert zu werden.

Dabei können die Kinder durch die Art der Präsentation einem Gegenstand einen ideellen Wert geben bzw. diesen sichtbar machen, sich dies als gestalterische Möglichkeit bewusstmachen, verschiedene Varianten erproben und bei den Mitschülern sehen. Ihre alltagsästhetischen Verhaltensweisen - etwa beim Ausstellen bedeutsamer Gegenstände auf dem Regal im Kinderzimmer - werden hierdurch mit einbezogen und zum Unterrichtgegenstand gemacht.

Erste Eindrücke und Detailarbeit
Nun geht es an die Sammlung persönlicher «Reliquien», die zumindest auf Zeit zum Ausstellen hergegeben werden können: Fotos vom Hund oder verstorbenen Meerschweinchen, von Geschwistern, Erinnerungsstücke an die Großeltern oder an eine Lehrerin, Andenken an Urlaub und Geburtstag, Urkunden und Medaillen, Autogrammkarten und Prospekte von Computerspielen sind die Vorschläge der Kinder. Mögliche Verfahren zum Überhöhen und Schmücken werden gesammelt: Umrahmungen, Hintergrundgestaltung durch Bemalen oder Bekleben mit Geschenkpapier, Blumen, Perlen, Steine, Muscheln, Sand, Sticker als "Verzierung". Ein Bezug des Schmucks zum ausgestellten Gegenstand wird angestrebt: Was würde mit Lorbeer geschmückt, was mit Sand, und was sagen diese Beigaben ergänzend, auch symbolisch aus?

Der Gemeinschaftsschrein soll sich aus individuellen Fächern (Schuhkartons) zusammensetzen, angelehnt an die Fächerung des Schädelschreins, die auch bei anderen Reliquienschreinen anzutreffen ist. Auf einem Arbeitsblatt plant jedes Kind sein Fach und notiert mitzubringende Materialien.
Die Offenheit der Gestaltungsaufgabe ist in der Planung und Realisation für manche Kinder zunächst nicht unproblematisch , es fällt ihnen schwer, eine ihrem Gegenstand und dem eigenen Empfinden und "Geschmack" angemessene Präsentation selbst zu finden und nicht wahllos und scheinbar gefahrlos Ideen der Mitschüler zu imitieren. Andere gehen souverän mit der Aufgabe um :
Cedric verziert sein Musikschul-Zertifikat mit ausgeschnittenen Noten aus Silberpapier. Katharina setzt ihr Kuscheltier auf ein Podest. Bei Melek kommt die Freude an der Opulenz, an Schleifen, Perlen und leuchtenden Farben in der Umrahmung für das Foto ihres großen Bruders zum Ausdruck. Andreas lässt seinen Kreidefelsen pur wirken und gestaltet den Kasten schlicht in Meeres- und Wiesenfarben. Dalia erhebt eine winzige Überraschungs-Ei-Figur als «Erinnerung an meine 2te Lehrerin» zur Reliquie mit rosa Rose. Peter umgibt seine Ehrenurkunde mit Blüten und Lorbeerblättern. Jens tapeziert seinen Schrein mit Computerspielprospekten und Fußballbildern. Stephanie gibt ihrem Fach mit einem Vorhang den Reiz des Geheimnisvollen und macht es so besonders kostbar und privat.

Die Rezeption des Klassen-Schreins erleichternd, gleichzeitig als Verbindung zum Schädelschrein, werden die Reliquien der Kinder mit roter Schrift auf weißen Kärtchen bezeichnet und erläutert: «Mein Kuscheltier als Erinnerung an Oma», «Mein verstorbener Hund».

Um ihre lieben und werten Gegenstände nicht der Gefahr von Diebstahl und Vandalismus auszusetzen, wollen die Kinder ihren Schrein lieber im Klassenraum als im Schulflur ausstellen. Er ist dann nur für geladene und vertrauenswürdige Gäste zugänglich, bei denen man auch eher Verständnis, Anteilnahme und Wertschätzung der Arbeiten voraussetzt. Denn Spott als Äußerung von Unverständnis für ihre persönlichen Arbeiten können Kinder sicher ebenso wenig vertragen wie erwachsene Künstler - und wie gläubige Klosterfrauen.

Wir machen unseren eigenen Reliquienschrein
Mein Orgelzertifikat
Meine Ehrenurkunde
Kreide aus Rügen
Mein Kuscheltier als Erinnerung an Oma
Meine kleine Schwester
Mein verstorbener Hund
Friedrich, Werner (Text), Förderverein Kloster / Schloss Bentlage e. V. (Hg.): Das Kreuz im Garten des Paradieses, Rheine 1998

Sander, Helga / Peschl, Wolfgang: Klosterarbeiten; Tradition, Vorbilder, Anleitungen. Augsburg 1997

www.kloster-bentlage.de

Literatur
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