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Sehen und Fühlen
Haptische Assoziationen beim Betrachten eines Bildes werden in textiler Gestaltung objektiviert
Auguste Renoir: Jeune femme se coiffant
Ein Zufallsfund im Schnäppchenmarkt: Kunstpostkarten zum Sonderpreis. Im Renoir-Paket das Bild einer üppigen jungen Frau, dessen Wirkung zwischen kitschig - das korall-orange geschminkte Gesicht, die vollen Lippen, die massive Hübschheit, der Schlafzimmerblick - und faszinierend - die leuchtenden Haarsträhnen, der Schmelz der Haut, die sichtbare Fühlbarkeit von Seidenhaaren, Pfirsichsamthaut und Leinenbatistkleid - vibriert:
"Jeune femme se coiffant".  (Weitere Abbildungen des Werks hier und hier.)

Es löste den Gedanken aus, im Unterricht mit einem 3. Schuljahr diesen Fühleindruck mit textilem Material zu objektivieren und somit bewusstzumachen. Aus dem Seh-Bild könnte ein Fühl-Bild hervorgehen, aus verschiedenen Stoffen appliziert, lebendig geformt und gerafft, aus der Zweidimensionalität zum Relief sich herauswölbend. Mehrperspektivische oder sogar synästhetische Wahrnehmung des Renoir-Bildes sollte sich mit Stofferfahrung und -differenzierung verbinden. Die fühlbaren Aspekte des Bildes sind ja selbst textile Grundstoffe (Haare, Haut) oder Endprodukte (Kleid), wodurch hier eine organische wesensmäßige Verbindung von der Malerei zur Textilgestaltung gegeben ist.
Während Stoffe im Alltag dominierend über visuelle Aspekte wie Farben und Dessins wahrgenommen werden, muss man jetzt vor diesen aufdringlichen Qualitäten die Augen verschließen und nur mit dem Tastsinn die verborgenen, subtilen Wesensmerkmale erforschen und wirken lassen.

Die Arbeit im Unterricht begann prosaisch mit der Vorbereitung des Bilduntergrundes und der Einführung der technischen Grundlagen: Erfahrungen mit Fadenlänge, Einfädeln, Vernähen und Vorstich. Zur Stabilisierung der neutralfarbigen (quasi farblos gemeinten) Stofffläche nähten wir diese auf DIN-A4-Karton, in den wir mit Lineal und Prickelnadel Einstichlöcher in gleichmäßigen Abständen vorgestanzt hatten. Erst nach dieser Fleißarbeit kam der Inhalt der Unterrichtseinheit in Gestalt der Renoir-Postkarten ins Spiel.

Bei der Bildbetrachtung klärten die Kinder für sich zunächst den Bildinhalt. Sie erklärten, dass die junge Frau ihr weißes Hochzeitskleid trägt, dazu Verlobungsringe, und dass sie schon für das Fest geschminkt ist und auf ihren Bräutigam wartet, der sie aber wahrscheinlich verlassen hat, da sie nicht richtig lächelt und die Augen, in denen eine Träne blinkt, traurig halb geschlossen hat.

Der Impuls "Wie fühlt sich das an, was man auf dem Bild sieht?" irritierte die Schüler und führte zuerst zum Befühlen der Postkarten, dann aber zu der Idee, dass man an sich selbst mal Nachfühlen könnte. Haare, Haut und Kleid wurden als Träger unterschiedlicher haptischer Merkmale benannt.

IIn blickdichten Wühl-Kartons hatte ich Stoffe mit unterschiedlichen haptischen Qualitäten bereitgestellt. Die Kinder griffen hinein und wählten mit den Händen die Stoffe aus, die ihren Vorstellungen von der Fühl-Qualität der Einzelaspekte entsprachen, während sie gleichzeitig auf das Bild schauten. Der visuelle und der taktile Eindruck wurde so in simultane Übereinstimmung gebracht.

Es war vereinbart, dass nach der blinden Auswahl die herausgezogenen Stoffe nicht umgetauscht werden sollten, wenn sie den Kindern beim Ansehen vielleicht nicht gefielen oder nicht zum Bildgegenstand zu passen schienen. Wie die Stoffe aussehen, darauf kam es hier ja ungewohnterweise gar nicht an: Es sollte nur das Fühlen, nicht das Sehen von Bedeutung sein. So entstand bewusst der Widerspruch, dass das Offen"sicht"liche, nämlich die optische Qualität der Stoffe, nicht von Bedeutung ist, sondern nur die unsichtbare, lediglich tastbare Qualität der Stoffe gemeint und somit der Aussageträger ist.

Den Formen des Vorbilds entsprechend legten die Kinder ihre ausgewählten Stoffe auf den Untergrund und nähten sie mit freien Vorstichen so auf, dass beim Aufrichten des Bildes die Stoffanordnung möglichst erhalten blieb. Es fiel ihnen nicht ganz leicht, sich aus dem flachen Auflegen der Stoffstücke zu befreien und zu wagen, sie zu drapieren und auf diese Weise in die gewünschte Form zu bringen. Das Entstehen von Falten und Unregelmäßigkeiten erlebten sie erstmals als möglichen beabsichtigten Gestaltungseffekt.
Überwiegend wurden für die Haare die haarigen Stoffe wie Pannesamt oder die flauschige Seite der Vlieseinlage gewählt. Das Kleid haben die Kinder über die weiße Farbe mit Festlichkeit, Hochzeit und darum öfter mit seidig Kostbarem in Verbindung gebracht als mit robusteren Leinen- oder Baumwollstoffen. Haut war meist so glatt und fein wie möglich, manchmal aber auch körnig: Ein Schüler: "Die Haut hat viele Poren so wie das Leder."

Bei welchen Aspekten die Stoffauswahl leicht oder schwer fiel, welche Gründe zur Auswahl führten, wurde in der Reflexion ebenso thematisiert wie die Gestaltungsmittel der Malerei, die Fühleindrücke bewirken, z. B. "viele Farben in den Haaren" oder das verschwommen-weiche Gesicht. Das Bewusstmachen der taktilen Assoziationen führt zu differenzierter und begründeter Wahrnehmung des Bildes.

Die Unvollkommenheit der üblichen einkanaligen visuellen Wahrnehmung von Bildern kann hier erlebt werden: Die Bedeutungslosigkeit, das Nichtgemeintsein der Farben und Muster der Stoffe bewirkt, dass das Sehen der Textilbilder einen falschen Eindruck macht: Diese Bilder müssen nicht mit den Augen, sondern mit den Händen betrachtet werden! Dies führte zur Er-kenntnis der spezifischen Eigenschaft von textilem Material: der Fühlbarkeit auf der Haut und der Schmiegsamkeit, was auch dem hauptsächlichen Einsatz von Textilien als Kleidung entspricht.

Die Materialerkundung zeigt aber auch, dass der ursprüngliche Zusammenhang zwischen organischen Materialien - Haar, Haut Pflanzenfasern - und Textilien fast Geschichte ist: Der überwiegende Teil der angesammelten, also heute verwendeten Stoffe gehört nämlich zur "Poly-Familie" der Chemiefasern.
Nach drei Doppelstunden waren die Kinder stolz auf ihre Arbeiten und freuten sich darauf, sie den Eltern zu zeigen. Enttäuschende Reaktionen der an "ordentliche Handarbeiten" als Maßstab gewöhnten Eltern befürchtend, fragte ich die Kinder, was ihre Eltern wohl zu den Stoffbildern sagen würden. "Die würden das bescheuert finden." Warum? "Weil sie nicht wissen, warum wir das gemacht haben. Das müssen wir ihnen erst erklären." Die Kinder haben also erfahren, dass ihre Werke - wie viele Kunstwerke - nicht durch bloßes Anschauen ganz verstanden und gewürdigt werden können. Anhand der in der Klasse ausgestellten Arbeiten habe ich den Eltern in der Klassenpflegschaftsversammlung über die Entstehungshintergründe der "wilden" Bilder berichtet, die daraufhin mit wohlwollendem, gemäßigtem Befremden angenommen und gewürdigt wurden.

Beim Bilderaufhängen konnte ich mich an einer unfreiwilligen "Lernzielkontrolle" erfreuen. Unsicher über Oben und Unten fragte ich eine Schülerin: "Wie herum muss dein Bild hängen, so oder andersrum?" Da rief sie: "Frau Rother, warum fühlen Sie nicht?"