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Vorhang der Stille

Als ich im Sommer einen dieser wunderscheußlichen beige-braunen Perlenvorhänge sah, die in Terrassen- oder Schrebergartentüren hängen, dachte ich mir, das Prinzip ist doch interessant, daraus müsste man etwas machen können: etwas anderes als Perlen oder Plastikbänder aufhängen. Aber mit welchem Sinn?

Ein solcher Vorhang ist durchlässiger als eine Tür, markiert aber doch eine sicht- und fühlbare Grenze zwischen Räumen. Wenn man hindurchgeht, berührt man den Vorhang und spürt körperlich den Übergang in einen anderen Raum oder ins Freie.

In meiner zu Beginn des Schuljahres aus zwei kleinen Klassen zusammengelegten Klasse 4 herrschte oft ziemliche Unruhe. Der Klassenraum musste zu einem ruhigeren Raum werden. Den Kindern sollte bewusst werden: Wenn wir durch den Vorhang gehen, kommen wir in einen anderen Bereich. Solange man auf dem Schulhof oder noch auf dem Flur ist, kann man laut sein, doch wenn man die Klasse betritt, ist man in der Stillezone. Dies sollte durch einen „Vorhang der Stille“ verdeutlicht werden.

“auf der Toilette”: Kloschüssel, Klobürste, Klopapier

“beim Zuhören”: Ohr

Begriff “Opa”: Gebiss

“beim Denken”: Gehirn (Oben) und Kopf (unten)

“in der Kirche”: betende Hände, Kreuz (oben), Jesus, Kerze (unten)

Darum sollten an den Bändern unseres Vorhangs Stillesymbole hängen, kleine Dinge, die an Stille erinnern. Bevor aber überhaupt die Rede davon im Unterricht war, befassten wir uns in einer Stilleübung mit der Stille an sich. Die Kinder bekamen die Aufgabe, für einige Minuten ganz still zu werden, die Augen zu schließen, die Stille zu spüren, und dabei zu überlegen, wo, wann, in welcher Situation, in welcher Gegend, bei welchen Anlässen es sonst noch still ist.

Anschließend schrieben die Kinder ihre Gedanken als Schlagworte auf Zettel. Die Begriffe wurden auf ihre Stimmigkeit überprüft und als Themen für die Partner- oder Einzelarbeit unter den Kindern verteilt. Auf die weitere theoretische Vorarbeit wurde relativ viel Zeit verwendet, denn ich wollte den Kindern, die ich erst seit Schuljahresbeginn in Kunst unterrichte, diese Arbeitsweise intensiv näherbringen.

So kam nun erst der Vorhang ins Spiel: Ich brachte einen provisorischen Vorhang aus Fäden in der Klassentür an, durch den die Kinder nach der Pause einzeln hindurchgingen mit dem Auftrag, darauf zu achten, was sie dabei spürten, wie der Vorhang auf sie wirkte. Die Erfahrung, den Übergang in einen anderen Raum körperlich zu spüren, wurde mit dem Thema Stille verknüpft.

Wir wandten  uns dann wieder den zuvor erarbeiteten Stille-Begriffen zu. Zu jedem Begriff sollte ein eigenes Band mit entsprechenden Dingen angefertigt werden. Aus ihren Begriffen leiteten die Kinder zunächst gegenständliche Symbole ab, indem sie überlegten, welche Dinge typisch für ihren Begriff sind und als Erkennungszeichen fungieren können. Im nächsten Schritt planten sie, wie diese Dinge im Kleinen hergestellt werden können und welche Materialien dazu nötig sind, bzw. welche Dinge man auch „in echt“ verwenden kann. Diese Planung erfolgte schriftlich, diente als weitere Arbeitsgrundlage und auch als Überprüfungs- und Dokumentationsmöglichkeit der gesamten Arbeit und des Endergebnisses.

Die Antworten der Kinder auf die Frage „Wo und wann ist Stille?“ lauteten: im Bett, bei Nacht, auf dem Friedhof, beim Angeln, wenn man ein Buch liest, in der Kirche, auf einer Wiese, beim Zuhören, im Krankenhaus, im Wald, auf der Toilette, beim Denken, wenn man allein zu Hause ist, unter der Dusche, in der Wüste, bei den Hausaufgaben, Kuscheltiere, Opa.

In der abschließenden Reflexion stellten die Kinder ihre Arbeiten von der Begriffsfindung über die Planung und Durchführung bis hin zum Ergebnis vor.

Wir waren von unserem Vorhang sehr angetan, als er fertig war, befürchteten jedoch, wir könnten ihn nicht benutzen, weil die Fäden sich zu leicht verhedderten  und die angehängten Gegenstände doch nicht so robust schienen, wie wir sie gewollt hätten. Probeweise hängten wir ihn auf und wir stellten fest, dass wir uns getäuscht hatten: Der Vorhang hält sich auch nach mehreren Tagen noch  tapfer, weil wir ganz vorsichtig hindurchgehen. Zur Haltbarkeit trägt auch bei, dass die Fäden nicht bis zur Erde gehen, sondern oft schon in Schulter- bis Hüfthöhe enden. Nur ein Faden mit 18 angeknoteten Dingen reicht ganz bis zum Boden.

Erneut auf ihre Erfahrungen beim Durchschreiten des nun fertigen Stille-Vorhangs befragt, meinten die Kinder: „Es ist, als ob man eine andere Welt betritt.“

Vorhang3

“Ruhe-Schleier” nannte ein Mädchen den Vorhang.


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