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“fliegen”
3. Schritt:
Ich fliege
Bewusstes Wahrnehmen der Empfindungen im Flug

Das Fliegen ist ein Urtraum des Menschen. Aus eigener Kraft kann er es nicht. Flugähnliche Momente kann er jedoch erzeugen, etwa durch das Springen aus mehr oder weniger großer Höhe oder durch das Schwingen an Ringen. Diese „Flug“arten werden in diesem Unterrichtsschritt erprobt. Die körperlichen, psychischen oder psychosomatischen Empfindungen, die die Kinder bei flugähnlichen Erfahrungen am eigenen Leibe spüren, werden bewusst erlebt, thematisiert und in Formen und Farben ausgedrückt.

Die mit den „Flugversuchen“ einhergehenden körperlichen und seelischen Erfahrungen und Empfindungen können einerseits als angenehm empfunden werden, weil sie mit Leichtigkeit, Schwerelosigkeit, Freiheit verbunden sind. Andererseits können sie auch Angstgefühle erzeugen, wie Höhenangst, Angst vor dem Fallen, vor dem Landen, vor zeitweiligem Kontrollverlust, vor Verletzungen. Häufig sind beide Gefühle – Genuss und Angst – beteiligt. Beim Schwingen an Ringen überwiegt möglicherweise der Genuss der Freiheit, des Schwungs und der Schwerelosigkeit. Das Springen von der Kletterwand dagegen ist eher ein Fallen. Es unterscheidet sich vom Fliegen insofern, als beim Fliegen das Gefühl der Schwerelosigkeit dauerhaft besteht, während beim Fallen die Schwerkraft siegt und dem vertikalen „Flug“ ein schnelles Ende bereitet. Beim Springen, insbesondere aus einer Höhe außerhalb der Komfortzone, können daher Fluglust und Angst in individuell unterschiedlichen Anteilen vermischt sein.

Reale, objektive Formen und Farben haben diese Empfindungen nicht. Will man sie darstellen, muss man also Form und Farbe selbst (er-) finden. Diese (Er-)findungen können rein intuitiv und unmittelbar erfolgen, u. U. verbunden mit synästhetischen Empfindungen. Möglich ist auch, dass die Empfindungen in der Imagination der erlebenden Person eine Form bzw. Farbe annehmen, die dann im Material nachgeformt bzw. farblich verwirklicht wird.

In Gruppen erläuterten die Kinder einander ihre entstandenen Formen. Ich war hingerissen von den genialen Aussagen und bat die Kinder, ihre Erläuterungen aufzuschreiben, damit ich sie hier veröffentlichen kann:

Beim ersten “Flugversuch” konzentrieren sich die Kinder auf die Form. Sie sollen beim Sprung genau darauf achten, was sie in dem Moment spüren, wenn sie in der Luft sind. Dieses Gefühl sollen sie dann in Knete formen. Die (selbst hergestellte) Knete ist hierfür besonders geeignet, weil sie amorph ist und somit von sich aus keine Form vorgibt, weil sie relativ einfach und vielfältig formbar ist, sowohl zielstrebig-planende als auch intuitive Behandlungsweise ermöglicht, plastische Ergebnisse gegenüber flächigen begünstigt, sich durch Lufttrocknen stabilisiert, farbneutral ist und somit keine Farbe vorgibt. Sie kann evtl. später in der „Flugfarbe“ bemalt werden. Allerdings würde dann die Farbe mit der Form in der Wirkung konkurrieren. Auch könnte durch die Farbe verstärkt gegenständliche Assoziationen beim Betrachter hervorgerufen werden, was nicht gewünscht ist. Darum wurden unsere Formen nicht bemalt.

”Ich hatte irgendwie ein Pieksen im Bauch. Ich dachte mir, es war ein Stein mit Stacheln. Ich habe mir die Knete genommen. Dann habe ich versucht, das Gefühl nachzukneten.”
(Jannis)

Eine Empfindung in eine Form zu übersetzen ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es sollen keine gegenständlichen und klischeehaften Formen entstehen. Auch soll Beliebigkeit vermieden werden, die aus Überforderung und Hilflosigkeit entspringen kann. Darum war es sinnvoll, in einer vorbereitenden Übungsstunde mit den Zweitklässlern sowohl zielgerichtetes als auch intuitives Kneten zu erproben, um diese Herangehensweisen verfügbar zu machen.

“Ich habe mit den Fingern reingepiekst, das bedeutet, die Angst drückt in den Mut rein. Die Öffnung ist das Tor,
 wo der Mut versucht, die Angst wieder rauszubringen. Die Form ist das Mutkönigreich.”
(Liv)

“Bei mir muss man sich vorstellen, in meinem Bauch ist ein Kreis. Im Sprung kommt ein Ruck und zieht die Spitze vom Kreis nach oben. Das ergibt eine Eiform. Ungefähr eine Sekunde später kommt etwas Angst von der Seite. Das ergibt eine Eiform mit eingekuhlten Seiten.”
(Tjark)

“Ich habe es so geknetet, weil als ich runtergesprungen bin, hatte ich so ein Kribbeln im Bauch. Deshalb habe ich ein Kribbeln nachgemacht und meine Knete geformt. Und die Stacheln sollen das Kribbeln sein. Und ich habe so eine längliche Form gemacht, weil sich das in meinem Bauch so angefühlt hat, ob das eine Schlange ist.”
(Jette)

“Ich habe in mir drin gespürt, als wenn in mir drin etwas Stacheliges rumhüpfen würde. Ich habe die Form so gemacht, weil die Form ist ja auch so stachelig.”
(Lukas)

“Als ich in der Luft war, hatte ich ein Kribbeln im Bauch. Die Form habe ich so gemacht, weil also die Form ist ja rund und der Bauch ja auch. Die Löcher habe ich mit den Fingernägeln reingestochen. Weil die Löcher das Kribbeln im Bauch sein sollen und weil sie ja auch so aussehen.”
(J.)

“Mein Gefühl beim Sprung von der Sprossenwand hat die Form von einem Wassertropfen. Es war so ein Gefühl im Bauch und beim Springen ist das so hochgerutscht. Die Risse sind die Angst.”
(Elias)

“Ich habe beim Springen in mir gefühlt, dass die Angst auseinandergegangen ist. Erst war die Angst ein Klumpen, dann war die Angst sehr länglich. Dann ist sie zu allen Seiten auseinandergegangen. Die Form ist so entstanden, weil die Angst in den Beinen auseinandergegangen ist. Meine Form hat mit meinen Beinen zu tun.”
(Nika)

“Ich hatte ein Kribbeln im Bauch, so wie ein runder Punktekreis. Deswegen habe ich eine platte Form mit Punkten gemacht.”
(Mira)

“Das hat mit meinem Gefühl zu tun, weil das Dreieckige der Bauch sein soll und das Reingedrückte ist das Kribbeln.
(Mia)

“Beim Flug habe ich in mir drin etwas gefühlt wie ein Kloß, der an mir geklebt hat.
Die Form ist so der Kloß und die untere Seite ist das, wo der Kloß an mir geklebt hat.”
(Jonna)

“Als ich von der Kletterwand runtergesprungen bin, habe ich gespürt, dass ich gezittert habe und das war ein ganz schneller Ruck. Die Risse sind für den Ruck, weil das so wie auseinandergesprungen ist. Die Huckel sind für das Zittern, so hoch, runter, hoch, runter.”
(Finn)

Im zweiten Aufgabenteil sollte man eine Farbe finden, die so ist wie das Gefühl, wenn man in der Luft ist. Man konnte dazu beim Sprung die Augen schließen. Wichtig war, dass man ganz allein auf sein eigenes Gespür vertraut und nicht danach guckt, welche Farben die anderen Kinder auswählen. Und dass man nicht seine Lieblingsfarbe aussucht. Die Farben wurden nur “an sich” festgehalten, ohne eine bestimmte Form. Sie werden später im Rahmen einer weiteren Aufgabe noch eine Rolle spielen.

Mehr Flug-Gefühl und weniger Angst vermutete ich beim Schwingen an Ringen bzw. am Trapez. Um die Flug-Erfahrungen zu erweitern, wurde auch diese Variante erprobt.

Beim Schwingen sollten die Kinder auf Folgendes achten:
– Ist das auch eine Art Fliegen?
– Was ist der Unterschied zum Springen von der Kletterwand?

Einige Äußerungen der Kinder dazu:
”Ja, das ist eine Art Fliegen, und der Unterschied ist, dass das Springen mehr ein Runterstürzen ist und das an den Ringen eher wie richtiges Fliegen.”
Dagegen ein anderes Kind: “Ich finde, dass das Springen mehr wie Fliegen ist, weil man dabei wirklich in der Luft ist und sich nicht an etwas festhält. Beim Schwingen hält man sich ja an den Ringen fest, und das tut man beim Fliegen ja eigentlich nicht.”

Wir sprachen auch darüber, ob das Gefühl beim Schwingen die gleiche Farbe hat wie das beim Springen.Auch hierzu gab es unterschiedliche Empfindungen.

(Anfangs hatte ich auch an das Trampolinspringen als mögliche Flug-Erfahrung gedacht. Weil mir jedoch der hierfür erforderliche Sport-Schein fehlt und weil das Trampolinspringen für viele Kinder dadurch, dass sie ein Trampolin zuhause haben, schon recht alltäglich geworden ist, habe ich hierauf verzichtet. Ähnliches gilt für das Schaukeln.)

© Unterrichtsidee: Nicola Rother 2014


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